Die KRFD-Stellungnahme zur aktuellen Bertelsmann-Studie "Mehrkindfamilien gerecht werden"

Die KRFD-Stellungnahme zur aktuellen Bertelsmann-Studie Mehrkindfamilien gerecht werden: Bedarfe im Alltag von Familien mit drei und mehr Kindern (2022)

Die kinderreiche Familie - Leistungsträger aus der Mitte der Gesellschaft

Mönchengladbach, den 10.11.2022. Die aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung widmet sich einem „blinden Fleck“ (S. 92) innerhalb der Familienformen: die Mehrkindfamilie. Sie ist innerhalb der unterschiedlichen Familienentwürfe eine der Gruppen, die besonders benachteiligt, aber deutlich zu wenig gefördert sind. Das Familienmodell mit zwei Elternteilen und ihren beiden Kindern ist auch heute die Norm. Familienförderung orientiert sich noch immer vor allem an diesem Modell. Mehrkindfamilien sind keine „statistische Randgruppe“ (S. 92) sind, sondern sie leisten einen überdurchschnittlich hohen Beitrag zum Generationenvertrag.

Die Studie bekräftigt die langjährige Forderung des Verbandes kinderreicher Familien Deutschland e.V.: Mehrkindfamilien sollten politisch wie gesellschaftlich stärker entlastet werden! (S. 79) Dabei wird die Beobachtung wiedergegeben, dass sowohl in Politik als auch in der Forschung „kein nachhaltiges Interesse“ (S. 92) an einer spezifischen Analyse und Beachtung der Mehrkindfamilienform existiere. Die Themen von Mehrkindfamilien seien „nicht attraktiv“ (S. 45). Immer noch halten sich in der Gesellschaft zwei stereotypische Bilder über Mehrkindfamilien hartnäckig: Familien mit vielen Kindern seien entweder sehr arm oder sehr reich. In den Köpfen vieler Menschen werden sie als anders, nicht-normal bzw. von der „Norm abweichend“ gesehen. Sie fallen „aus der Rolle“ (S. 92). Dabei stehen Mehrkindfamilien nachweislich in der Mitte der Gesellschaft und sind weiter verbreitet als die Wahrnehmung der Öffentlichkeit suggeriert: jedes 4. Kind wächst mit zwei oder mehr Geschwisterkindern auf. Zudem sind „Mehrkindfamilien vielfältig“ (Factsheet S. 1.). Sie werden u.a. als pragmatisch, dynamisch, liebevoll, respektvoll, chaotisch, harmonisch, kreativ, flexibel, strukturiert und fokussiert dargestellt. Sie sind nie einsam.

Andresen et. al. zeigen deutlich, dass das für Deutschland prägende Familienbild (zwei Erwachsene und zwei Kinder), welches mit dem Ideal des „guten“ Aufwachsens und einer „guten“ Erziehung mit nur einem Geschwisterkind einhergeht, deutlich überholt und vergangenheitsbezogen ist. In Deutschland werden Paare strukturell benachteiligt, die sich für ein Leben mit vielen Kindern entscheiden. Die Bertelsmann-Studie bestätigt, worauf der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. schon seit vielen Jahren aufmerksam macht: dass „Mehrkindfamilien vielfach nicht mitgedacht werden“ (S. 93).

Die Studie arbeitet sehr heraus, dass Mütter und Väter mit drei und mehr Kindern einen anspruchsvollen Alltag auf sich nehmen. Sie verzichten oft auf eine (umfänglichere) Erwerbstätigkeit, senken damit die Möglichkeit zur eigenen Altersvorsorge, verfügen über weniger Zeit zur Regeneration und stellen eigene Wünsche in den Hintergrund. Über 80 % der Mehrkindfamilien sind verheiratet. Die Ehe und eine stabile Partnerschaft legen dabei ein Fundament für ein gesundes Aufwachsen ihrer Kinder.

Die Studie zeigt, was wir als Verband kinderreicher Familien schon lange verdeutlichen: Mit jedem einzelnen Kind nimmt das Potenzial zu, neue Erfahrungen zu sammeln. Dadurch entsteht die Möglichkeit, als Mutter und Vater vielfältige Perspektiven mitzuerleben: Der Wissens- und Erfahrungsschatz der Kinder nimmt in unterschiedlichen Bereichen zu und sie werden selbst „Expert:innen“ auf ihrem Gebiet. Zudem wird bestätigt, dass Kinder aus Mehrkindfamilien über hohe kommunikative Kompetenzen, große emotionale Belastbarkeit sowie ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Eltern und jüngeren Geschwisterkindern verfügen. So lernen sie Respekt und Wertschätzung nebst Vertrauen und einer Diskussionskultur bereits im kleinen „System“ Familie kennen. Die Familie ist die kleinste Einheit der Gesellschaft – und fördert in hohem Maße ihren Zusammenhalt. Für Mehrkindfamilien, so die Studie, ist die Familie besonders wichtig.

Es ist unverständlich, warum die Leistung von Mehrkindfamilien – insbesondere mit Blick auf den Generationenvertrag in unserer Gesellschaft – zu wenig anerkannt wird. Oft wird in den Berichten deutlich, dass sich Eltern über ihre eigene Altersvorsorge Gedanken machen und sorgenvoll auf ihre Rente schauen. Das derzeitige Rentensystem zielt überwiegend auf die monetären Beiträge der aktuell Erwerbstätigen ab. Dabei wird der generative Beitrag von Familien durch die Geburt, Erziehung und Ausbildung von Kindern nahezu völlig außer Acht gelassen, obwohl Familien einen unverzichtbaren Beitrag für das umlagefinanzierte Rentensystem leisten. Der Verband kinderreicher Familien fordert daher eine Reduzierung der Rentenbeiträge für Familien in Abhängigkeit von der Kinderzahl und damit eine Berücksichtigung der elterlichen Erziehungsleistung bei der Rentenversicherung.

Das Armutsrisiko von Mehrkindfamilien ist deutlich erhöht. Daher muss das Kindergeld als familienpolitische Leistung dringend deutlich ausgebaut werden, um echte Chancengleichheit zu gewährleisten. Die Höhe des Kindergeldes für dritte und weitere Kinder muss wieder stärker die besondere Leistung kinderreicher Familien berücksichtigen. Das Kindergeld für dritte Kinder ist daher 50 Prozent und das Kindergeld für vierte und weitere Kinder 75 % über dem Kindergeld für erste und zweite Kinder anzusetzen.

Die Studie zeigt zudem, was Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verbands seit vielen Jahren in der praktischen Arbeit erleben: Jede dritte kinderreiche Frau ist gut bis sehr gut ausgebildet (Factsheet S. 1). Viele Mütter von drei und mehr Kindern wollen weiter in Teil- oder Vollzeit berufstätig sein. Das Familieneinkommen ist dennoch aufgrund der Haushaltsgröße und des hohen Bedarfs viel niedriger als bei anderen Lebensmodellen. Eine finanzielle Förderung von Mehrkindfamilien, die diesen Mangel zumindest anteilig ausgleicht, ist dringend notwendig und keine ungerechtfertigte besondere Förderung eines einzelnen Lebensmodells. Der Verband kinderreicher Familien fordert daher lebensweltorientierte, passgenaue Arbeitszeitmodelle, echte Wahlfreiheit bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten auch nach langjähriger Familienphase. Ein Teilhabegeld, das die wirtschaftende, mittelständische Mehrkindfamilie übersehen würde, riskiert hingegen das Potential einer gesellschaftlichen Spaltung und Verstärkung von Stereotypen, die diese Studie in ihrem Anliegen eindrücklich widerlegt hat.

Aktuell führen Inflation und steigende Energiepreise dazu, dass Mehrkindfamilien im besonderen Maße an ihre finanziellen Grenzen stoßen. Ihr finanzieller Spielraum ist ohnehin eng. Die Studie umreißt die finanziellen Herausforderungen, vor denen Mehrkindfamilien immer wieder stehen: Ein bis zwei Einkommen müssen für eine große Zahl von Haushaltsmitgliedern ausreichen. In großen Familien ist vor allem der Verbrauch an Lebensmitteln und Hygieneartikeln sehr hoch: wer fünf Kinder zwischen 3 und 18 Jahren versorgen muss, kommt mit 2 Packungen Milch, einem Brot und 1,5 kg Nudeln gerade mal einen Tag lang hin. Die aktuellen Preisentwicklungen bei den Lebensmitteln treffen die kinderreichen Familien besonders hart. Der Alltag und das Leben mit Kindern ist herausfordernd – und wird auch der Mahlzeiten für die Familie immer teurer. Im Zusammenhang mit Mobilität nennt die Studie die Kosten für den ÖPNV für schulpflichtige Kinder, die große Löcher in das Familienbudget reißen. Zudem werden fehlende Angebote und Vergünstigungen für große Familien im Freizeit- und Kultursektor treffend identifiziert. Die Familienkarte für das Freibad oder den Zoo darf sich nicht an der „Zwei-Kind-Familie“ orientieren. „Also egal, was wir machen, sobald wir einen Fuß vor die Tür setzen, wird es für uns teuer“, heißt es von einer Mutter (S. 78) sehr treffend. Auch ausreichend großer Wohnraum ist gerade in Mehrkindfamilien selten und gleicht in manchen Gegenden in Deutschland einem Glücksspiel. Daher ist es notwendig, dass Wohnen auch mit mehreren Kindern finanzierbar bleibt. Es braucht eine entsprechende Berücksichtigung großer Haushalte beim Wohngeld genauso wie eine Förderung beim Erwerb von Wohneigentum. Der Verband kinderreicher Familien setzt sich zudem für echte Mehrkindfamilienkarten ein, um Zugänge zu Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu erleichtern und Familien in ihrem Alltag konkret zu unterstützen. Die Kostenstrukturen und Zugänge von Kindern und Jugendlichen zu Bildung, Verkehr und Kultur müssen auf kinderreiche Familien abgestimmt werden.

Die Handlungsempfehlungen der Studie für Mehrkindfamilien, entsprechen den langjährigen Forderungen des Verbands kinderreicher Familien und untermauern diese mit der wissenschaftlichen Datenlage vollumfänglich. Es ist notwendig, Mehrkindfamilien nicht nur verstärkt zu fördern und zu unterstützen. Es ist dringend geboten, ihre Bedarfe und Themen zu analysieren und diese in den wissenschaftlichen und politischen Diskurs einzubringen. Bei Modellrechnungen und Analysen sollten die Mehrkindfamilien stets Berücksichtigung finden – wer zur Mitte der Gesellschaft gehört und einen beträchtlichen Anteil an gesellschaftlichen Prozessen hat, verdient Berücksichtigung und Wertschätzung, aber auch gerechte und faire Behandlung.

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ÜBER DEN KRFD

Der Verband kinderreicher Familien Deutschland e.V. ist im Jahr 2011 aus der Initiative engagierter kinderreicher Familien entstanden, vertritt 1,4 Millionen kinderreicher Familien in Deutschland und setzt sich in Politik, Wirtschaft und Medien für ihre Interessen ein. Der Verband versteht sich als Netzwerk von Mehrkindfamilien, die sich untereinander unterstützen und die Öffentlichkeit für ihre Anliegen erreichen wollen. Der Verband ist konfessionell ungebunden und überparteilich.

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