Artikel und Interviews

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„Ob ich an Einsamkeit sterbe oder an Corona, ist doch egal“

[Lesestück 15 min]

Der Verband kinderreicher Familien Deutschland hat bei einigen Mitgliedern nachgefragt: Wie erging es eigentlich den Großeltern von kinderreichen Familien in den letzten „Corona“-Jahren? Die Stimmen zeigen ein differenziertes Bild: Überwiegend gut. Als noch keine Impfung zur Verfügung stand, wurde sich familiär oft nur im Freien getroffen; mit verfügbarem Impfschutz wurde die Kinderbetreuung in vielen Fällen in den letzten Monaten wieder aufgenommen. Verallgemeinerungen sind jedoch nicht möglich, weil es auch die vielen „Grautöne“ zwischen „gut“ und „schlecht“ gibt, die ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sind und von vielen persönlichen Faktoren abhängen, vor allen Dingen aber: Der Großteil hatte weiterhin regelmäßig physischen Kontakt zu den Enkelkindern.

„Wie soll das nur gehen?“

Erinnern Sie sich noch, als wochenlang absolutes Kontakt- und Besuchsverbot für Senioren- und Pflegeheime galt?
- Die Zwölfjährige stellt fest: „Wir haben unsere Großeltern vier Monate nicht besuchen können und dann erst nach vorheriger Anmeldung und Testung, hinter Plexiglasscheiben, in Schutzanzügen und mit nachheriger gründlicher Desinfektion von allem und jeden.“

Erinnern Sie sich noch, als laut Corona-Schutzverordnung ein Ansammlungsverbot erlassen wurde; die Osterferien als „erweiterte Ruhezeit“ zu verstehen, Mehl und Hefe ausverkauft und Supermärkte nur teilweise am Karsamstag öffnen durften?
- „Dann gibt es dieses Jahr eben keinen frisch gebackenen Osterzopf“, nahm es die Mutter mit Fassung.

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der private Zusammenkünfte mit nur zwei Hausständen und teils maximal zwei Personen erlaubt waren?
- „Das geht ja gar nicht, wenn die Omas und Opas auch kommen wollen“, sagt der Sechsjährige und zählt seine zwei jüngeren und drei älteren Geschwister, die schon in Ausbildung und Studium sind und nicht mehr zu Hause wohnen, auf.

„Das geht ja nicht, das gibt’s ja nicht! Oder wie soll das denn gehen?“
– Haben Sie das in den letzten Monaten auch so oft gehört oder gedacht? Nun, im Rückblick kann man sagen: Vieles ging doch irgendwie; manches gestaltete sich mehr schlecht als recht; oft brauchte es gewisse Prisen an Pragmatismus, Humor und neuen, gar unkonventionellen Ideen; und einiges blieb – leider – auch auf der Strecke oder verschlechterte sich. Bei manchen Familien wurde es immer lauter und hektischer; bei anderen nahmen Einsamkeit und Stille die Lust und Freude am Leben. Pauschalisierungen sind nicht möglich und werden den persönlichen Erfahrungen nicht gerecht.

Die Covid-19-Pandemie hat die Lebenssituation für viele Menschen über viele Monate erheblich verändert. Junge Erwachsene sind genauso betroffen wie ältere Menschen; Alleinstehende genauso wie Familien. Die Frage stellt sich nun eher nach dem Ausmaß der Betroffenheit eines jeden einzelnen. In den letzten Monaten standen die Familien, insbesondere die Kinder und Jugendlichen in Bezug auf Test-, Impf- und Maskenpflicht, Quarantäne-Regelungen, Online-, Hybrid- und Distanzunterricht sowie Absonderungszeiten verstärkt im Fokus der medialen Berichterstattung. Um die älteren Menschen war es vergleichsweise ruhiger geworden. Und nicht zu vergessen: Kontaktbeschränkungen für Menschen mit eigener Familie fühlen sich anders an als Kontaktbeschränkungen für Menschen ohne Familie.

Stille Woche als Anlass für den Blick auf die ältere Generation, denn still ist nicht gleich still

Dieser Tage beginnt die „Karwoche“. Sie wird oft als „Passionswoche“, „Große Woche“, „Trauerwoche“, „Heilige Woche“ oder „Stille Woche“ beschrieben. Aus kirchengeschichtlicher Sicht liegt in dieser „Stillen Woche“ vor Ostern Leben und Tod, Jubel und Trauer sehr nah beieinander. Auch im Ramadan, dem Fastenmonat der Muslime, der in Deutschland dieses Jahr von Anfang April bis Anfang Mai andauert, dreht sich vieles um die Zeit der Stille, der Besinnung und des bewussten Verzichts. Meditieren, zur Ruhe kommen und sich selbst zu reflektieren; sich Gedanken über sein eigenes Leben und Verhalten machen; still zu sein, nachzudenken, zuzuhören…

Wir nehmen das zum Anlass und haben bei einigen älteren Menschen im Verband nachgefragt: Wie erging es euch in den letzten „Corona“-Jahren? Die Personen sind willkürlich ausgewählt. Manche sind selbst kinderreich, das heißt, dass sie mehr als drei Kinder großgezogen haben (sonst wären sie nicht im Verband) und haben mittlerweile selbst Enkelkinder. Manche älteren Personen unterstützen als Patinnen und Paten unser „EMpower“-Patenschaftsprojekt in Nordrhein-Westfalen. (https://www.kinderreichefamilien.de/patenprojekt-empower.html) Das heißt, dass sie eine Art „Pflege- bzw. Ersatzgroßeltern“ für kinderreiche Familien sind und diese in ihrem Alltag unterstützen. Auch die Koordinatorin des Programms, Sylvia Krebs, die zusätzlich als Alltagsbegleiterin arbeitet und beruflich viel mit der älteren Generation in Kontakt ist, kommt zu Wort. Diese O-Töne finden Sie am Ende des Artikels.

Was versteht man unter enkelkinderreichen Großeltern?

Im Zuge der Recherche tauchte die Frage auf, ob – wenn man von „kinderreichen Familien“ spricht – auch von „enkelkinderreichen Großeltern“ sprechen könnte. Ist das eindeutig? Was versteht man darunter? Beginnen wir mit „kinderreichen Großeltern“. Darunter versteht man ältere Menschen, die als Eltern kinderreich waren, und nun in den Status „Großeltern“ gekommen sind. Gilt dann auch die Definition „wenn drei Kinder und mehr im Haushalt leben“? Ist man ab drei Enkelkindern „enkelkinderreich“? Dass Kinder bei Oma und Opa im Haushalt leben, ist nicht ausgeschlossen, aber vergleichsweise sehr selten. Sollte man die Zahl drei lieber für die Enkelkinder pro eigenem Kind zählen? Da wäre man dann ab neun Enkelkindern und mehr „enkelkinderreich“. Meine Kollegin sagte schließlich: „Ich habe momentan ein Enkelkind und ich fühle mich schon jetzt unglaublich reich beschenkt.“ Ihr Satz ließ uns beide zustimmend, aber still zurück.

Das Wort „Stille“ entstammt dem Althochdeutschen „stilli“, was so viel heißt wie „ohne Bewegung, ruhig, ohne Geräusch“. Manche Menschen verstehen darunter die Abwesenheit jeglicher Geräusche (kein Straßenlärm, aber auch kein Vogelzwitschern oder das Plätschern eines Baches). Für hörgeschädigte und gehörlose Menschen ist es still, lautlos. Babys „stillt“ man, damit sie sich beruhigen. Stille kann auch Bewegungslosigkeit bedeuten (kein Rascheln von Blättern, kein Windzug, der weht). In einer Steigerung von Stille spricht man umgangsprachlich auch von „Totenstille“.

Der Zusammenhang von Stille und Einsamkeit | die DEAS Studie 2021

Jeder Mensch nimmt unter „Stille“ etwas anders wahr: Stille kann gewünscht und unerwünscht sein. Allzu oft geht sie auch mit Einsamkeit einher. Jeder Mensch braucht Menschen um sich herum, bei denen er sich dazugehörig fühlt. Das kann schwieriger werden, je älter man wird. Einsamkeit ist gerade in Pandemie-Zeiten zu einem Thema geworden, auch mit Blick auf Depressionen und suizidale Gedanken.

Je länger die Pandemie dauerte, desto klarer wurde, dass die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf von COVID-19 gerade bei sogenannten Risikogruppen höher liegt. Insbesondere ältere Menschen können, bedingt durch das weniger gut reagierende Immunsystem, nach einer Infektion schwer erkranken. Sie und ihre Angehörigen mussten daher zu Beginn der Pandemie, als noch kein COVID-19-Impfstoff zur Verfügung stand, starke Einschränkungen in Kauf nehmen und soziale Kontakte auf ein absolutes Minimum reduzieren.

Im Auftrag des Bundesseniorenministeriums befragte das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) im Rahmen des Deutschen Alterssurveys (DEAS) im Juni und Juli 2020 Personen zwischen 46 und 90 Jahren, die zu Hause leben. Das Ergebnis war zu erwarten: Das Einsamkeitsempfinden war deutlich höher als in den Befragungsjahren 2014 und 2017. 9 Prozent der Menschen zwischen 40 und 85 Jahren sind von Einsamkeit betroffen. (vgl. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/173820/666c7db8a6a5f4f9211f4e55fd12df3f/einsamkeit-deutscher-alterssurvey-dzi-data.pdf).

„Im Sommer 2020 lag der Anteil sehr einsamer Menschen im Alter von 46 bis 90 Jahren bei knapp 14 Prozent und damit 1,5-mal höher als in den Vorjahren. Dabei gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Frauen und Männern, Menschen mit hoher oder niedriger Bildung oder zwischen mittlerem und hohem Alter – in der Pandemie sind die Einsamkeitsraten in allen diesen Gruppen in gleichem Maße erhöht. Eine häufige Annahme hat sich nicht bestätigt: Ältere Menschen haben das gleiche Risiko, einsam zu sein, wie jüngere Menschen“, heißt es in der Studie.

„Corona“ führte zur kompletten Umstellung des Soziallebens

Je mehr man über das Virus erforschte, desto besser konnte man sein eigenes Verhalten anpassen. Dennoch blieben die Auswirkungen auf das Sozialleben und somit auch auf die Kontakte zwischen Großeltern und ihren Enkelkindern bestehen. Wie sollte man sich als Familie in diesen Zeiten verhalten? Sollte man auf den Besuch verzichten? Und was sollten kinderreiche Familien machen, wenn es hieß, dass ein Treffen auf max. fünf Personen aus zwei Hausständen beschränkt ist?

Großeltern haben oft ein besonderes Verhältnis zu ihren Enkelkindern und fühlen sich durch sie geliebt und gebraucht. Oft mussten Treffen aber vermieden werden, weil ältere Menschen zur am stärksten durch das Virus gefährdeten Gruppe gehören. Dabei gab es oft genug Phasen, in denen die Hilfe von Großeltern besonders wichtig gewesen wäre, nämlich dann, als die Betreuung von Schul- und Kindergartenkindern von jetzt auf gleich aus unterschiedlichen Gründen wegbrach. Als externe Betreuungskräfte nicht mehr in die Familien einbezogen werden sollten, wenn kein verwandtschaftliches Verhältnis bestand. Nicht wenige Minijobs von jungen Auszubildenden und Studierenden, die sich darüber finanziert haben, sind weggebrochen.

Unterschiedliche Pandemie-Regelungen zwischen den Bundesländern

Die Regelungen unterschieden sich zwischen den Bundesländern. In Berlin durfte sich zeitweise eine Person eines Hausstandes mit einer Person eines anderen Hausstands treffen. Das bedeutet also, dass die Großeltern maximal ein Enkelkind betreuen durften. In Brandenburg besagte die Verordnung, dass, wenn ohnehin schon enge soziale Kontakte zwischen Kind und der Oma bzw. Opa bestünden, eine Betreuung durch die Großeltern möglich sei. Wenn jedoch dadurch neue Kontakte entstünden, soll keine Betreuung erfolgen.

Es gab Phasen, da wurde Großeltern, die zu einer Risikogruppe gehören, empfohlen, den Kontakt zu ihren Enkelkindern nicht mehr in der Wohnung, sondern nur noch im Freien zu suchen. So manche Familien haben sich auf Terrassen, in Datschen und Gärten, in Parks und Wäldern verabredet, um Abstandsregeln einzuhalten und – als noch kein Impfstoff zur Verfügung stand, sich und die anderen bestmöglich zu schützen. Für die körperlich Fitten und Bewegunsgfreudigen erfreute sich das Wandern und Spazierengehen eines Revivals und führte auch zu größerer Beliebtheit bei den Jüngeren.

Sechs Möglichkeiten des Sich-Sehens zu Lockdown-Zeiten und darüber hinaus

Für viele Großeltern sind die Enkelkinder fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Welche Möglichkeiten des Sich-Sehens bestand zu Lockdown-Zeiten und darüber hinaus? Wir listen sechs verschiedene Kategorien auf:

  1. Großeltern wohnen geografisch zu weit von den Enkelkindern entfernt und sind kein Bestandteil des alltäglichen Lebens
  2. Großeltern übernehmen regelmäßig die wöchentliche Enkelbetreuung
  3. Großeltern übernehmen punktuell nach Absprache die Betreuung
  4. Großeltern und Enkel leben im gleichen Haus
  5. Großeltern und Enkel verzichten gegenseitig freiwillig auf ein Treffen mit Enkelkindern aus Schutz und Sorge → Wiedersehen im digitalen Raum; Rückgriff auf „klassische“ Kommunikationswege per Post (hübsch gestaltete Briefe) und Telefon
  6. Großeltern treffen sich vorübergehend nur im Freien mit den Enkelkindern

Für manche ist ein Nichtsehenkönnen furchtbar; andere kommen wiederum besser damit klar. Manche Väter und Mütter wollten den Kontakt präventiv aussetzen, um die eigenen Eltern zu schützen. Manche Familien trafen sich nur noch draußen. Manche Großeltern holten die Kinder nur mit Mundschutz an der Kita-Tür ab und übergaben sie wieder an der elterlichen Tür. Manche Großeltern kümmerten sich auch während Quarantäne-Phasen und Krankheitsphasen um die ganze Familie, denn kinderreiche Familien wurden bei den Corona-Schutzverordnungen nicht mitgedacht und saßen teilweise wochenlang in Isolation. Manch einen betraf es nicht, weil die Enkel nicht in der Nähe wohnen. Nicht überall war es möglich, den Kontakt zu vermeiden. Sei es, weil die Familien im selben Haus wohnen, sei es, weil man auf die Unterstützung der Großeltern angewiesen ist – vorrangig aus beruflichen Gründen in Fällen von Schicht- und Wochenendarbeit. Diese Familien haben dann häufig beschlossen, weitgehend unter sich zu bleiben und sich mit anderen sozialen Kontakten einzuschränken.

Eine freiwillige Einschränkung gab (und gibt) es oftmals auch in den Familien, in denen Familienangehörige mit Vorerkrankungen bzw. schweren Krankheiten leben. Die Sorge und Verunsicherung vor einer Infektion der Liebsten lastet schwer – immer noch. Nicht selten wurden die Kinder präventiv aus Kindergarten und Schule genommen, um die Gefahr einer mögliche Ansteckung zu minimieren.

„Großeltern leisten auch in der Pandemie einen beachtlichen Beitrag zur Kinderbetreuung“

Mittlerweile liegen Zahlen vor, die auch wir bestätigen können: „Während der Pandemie blieb die Enkelkinderbetreuung weitgehend stabil. Vorerkrankungen der Großeltern beeinflussten weniger die Betreuung der Enkelkinder, wie auch Mareike Bünning, die Erstautorin der DEAZ-Studie, feststellte (vgl. Bünning, M., Ehrlich, U., Behagel, F. & Huxhold, O. (2021). Enkelbetreuung während der Corona-Pandemie). Während 39 Prozent der Großeltern 2017 ihre Enkelkinder regelmäßig betreuten, waren es 34 Prozent im Winter 2020/21. Dieses Ergebnis schien für manche Expertenrunden überraschend zu sein.

Stabil geblieben sei auch der zeitliche Umfang, den Großeltern in die Enkelbetreuung steckten. Er betrug im Winter 2020/21 rund neun Stunden pro Woche. „Auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet handelt es sich um fast zwei Milliarden Stunden im Jahr 2020. Legt man für jede geleistete Betreuungsstunde den aktuellen Mindestlohn von 9,35 Euro zugrunde, lässt sich ein wirtschaftlicher Wert von rund 16 bis 18 Mrd. Euro schätzen. Das entspricht etwa 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2020“, berechneten die Autorinnen und Autoren der Studie. Die Zahlen zeigen, dass ältere Menschen nicht nur eine schutzbedürftige Risikogruppe sind, sondern auch einen aktiven Beitrag zur Krisenbewältigung leisten (vgl. Bünning et. al 2021)

Wir stellten oft fest: „Lieber ein Leben mit Risiko als gar nicht zu leben“

Unsere Umfrage erhebt keineswegs einen wissenschaftlichen Anspruch. Sie ist nicht repräsentativ. Vielmehr lag der Fokus in den letzten Wochen darauf – wann immer sich die Möglichkeit ergab – mit Großeltern oder Großeltern-Paten von kinderreichen Familien in Kontakt zu kommen, hinzuhören; genauer nachzufragen – überhaupt zuzuhören. Nun sollte man dazu sagen, dass die Großeltern der kinderreichen Familien und des Patenprojekts „EMpower“ rüstige Seniorinnen und Senioren sind, für sich selbst sorgen und nicht pflegebedürftig sind.

Uns sind so einige ältere Menschen begegnet, die die Ansicht vertreten „lieber ein Leben mit Risiko als gar nicht zu leben“. Die Menschen, die bis auf ihr Alter kein erhöhtes Risiko für eine Corona-Infektion aufweisen, äußerten sehr deutlich, dass sie für ein potenzielles Risiko nicht auf das verzichten möchten, was ihnen am wichtigsten und liebsten ist. In den Gesprächen wurde deutlich, dass es die Zeit mit den Kindern ist („Sie sind nur einmal klein.“); dass Zusehen beim Aufwachsen. Die Bindung zu Familien ist das, was das Alter für diese Leute sehr bereichert. Ggf. Monate oder Jahre zu verzichten und dann ggf. an etwas anderem zu erkranken bzw. zu sterben und nicht davor nicht die Zeit selbstbestimmt gelebt zu haben, fanden viele Leute nicht sinnvoll. Man sollte nicht unterschätzen, dass viele ältere Menschen durch ihre vielfältigen Lebenserfahrungen und ihre Weitsicht eine ganz eigene Art haben, achtsam in kritischen Situationen umzugehen. In ein Risiko bewusst hineinzugehen, kann manchmal auch ein Weg sein. Die Achtsamkeit ist in risikoreichen Zeiten meist größer.

Bringt die Pandemie „digitale Silversurfer“ hervor?

Viel öfter wurden kreative Wege gesucht: Es wurde draußen gebibbert und gelacht, sich an Feuerschalen und Grills erwärmt und die Terrassenbestuhlung vom Sommer wurde gar nicht erst winterfest gemacht. Bei allem Leid, aller Stille und aller Einsamkeit, was die Pandemie als „Nebenwirkungen“ mit sich gebracht hat, und die es nun genauso im Blick zu halten gilt – die ältere Generation wurde digitaler. Sie wurde sprichwörtlich ins kalte „Corona“-Wasser geworfen. Wer seine Enkelkinder sehen wollte und noch nicht internetgeübt war, hat sich schnell einen digitalen Zugang beschafft. Gut jeder dritte Mensch ab 80 Jahren in Deutschland nutzt das Internet – in der Gesamtbevölkerung sind es fast neun von zehn Personen. 57 Prozent der Hochaltrigen mit Internetzugang sind täglich online. Das sind zwei zentrale Ergebnisses der Studie „Hohes Alter in Deutschland“ (D80+). (vgl. https://ceres.uni-koeln.de/forschung/d80 und https://www.dza.de/forschung/aktuelle-projekte/hohes-alter-in-deutschland-d80)

Es mangelte nicht an vielfältigen Angeboten: Spezielle Senioren-Smartphones, -Tablets und -Apps gibt es genügend auf dem Markt, schon vor der Pandemie. Man muss nur finden, was zu einem am besten passt. War man einmal im Besitz eines technischen Endgeräts, war das Kontakthalten zu den Enkelkindern zum Beispiel über virtuelle Spiele oder andere spaßbringende virtuelle Aktionen mühelos. Erstaunlicherweise oder besser erfreulicherweise ist, dass für die Mehrheit (75 Prozent) der Hochaltrigen die Corona-Pandemie keine Veränderung ihrer Internetnutzung bewirkt hat – auch das ist Teil des Studienergebnisses.

Nach dem ersten Lockdown ist ein Teil unserer GesprächspartnerInnen lieber das Risiko eingegangen an Covid-19 zu erkranken, als von ihrer Freude an und das Zusammensein mit der Familie einzubüßen, das sie nie wieder nachholen können. Frei nach dem Motto: „Unsere Enkelkinder, unser Hier und Jetzt“. Niemanden sollte ein Vorwurf gemacht werden; niemand sollte sich gezwungen fühlen und niemand sollte sich rechtfertigen müssen, warum er/sie sich so verhielt, wie er/sie es für richtig hielt bzw. hält. Gemeinsam für ein starkes Miteinander.

L. Schlichting
O-TÖNE
O-Ton 1: „Et hätt noch immer jot jejange“
Ich bin Dr. rer. nat. Christoph H. und bin 78 Jahre alt, Rentner und lebe in einem Dorf innerhalb der Stadt Overath im Rheinisch-Bergischen Kreis. Meine Frau ist vor 20 Jahren verstorben. Ich bin promovierter Physiker (Festkörperphysik) und habe im TÜV Rheinland im Bereich Umweltschutz und Luftreinhaltung und später im Vorstandsbüro gearbeitet. Als der Vorstandsvorsitzende Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen wurde, wurde ich auch Mitarbeiter dort.

Meine Frau hat mir fünf Kinder geboren und ich habe mittlerweile fünf Enkelkinder. Mein ältester Sohn hat drei, der andere Sohn hat zwei Kinder. Wie das Schicksal so wollte, sind die Cousins und Cousinen jeweils im gleichen Jahr geboren. Zwei sind acht Jahre alt, die anderen beiden sechs und die jüngste ist vier Jahre alt.

Meine Kinder leben größtenteils in der näheren Umgebung und können mit wenig Fahrzeit bei mir sein. Mein Sohn mit den drei Töchtern hat es hingegen etwas weiter. Seine Familie lebt in Bonn-Niederkassel.

Es gab ja mal eine Zeit zu Beginn der Pandemie in 2020, als sogar die Spielplätze in Köln gesperrt waren. In der Zeit kamen die Enkelinnen aus Köln regelmäßig zum Spielen zu mir. Hier gibt’s viel Platz und frische Luft; alles ist weitläufiger zwischen den Wiesen und Feldern.

Ich habe das Gefühl, dass die Belastung für die Mütter während der Pandemie erheblich gestiegen ist.

Bei meinem Geburtstag innerhalb des ersten Lockdowns galten noch sehr strikte Regeln. Aber ich kann ja schlecht sagen: „Mein eines Kind kann kommen und die anderen nicht“. Das hat sich die Politik nicht richtig durchdacht.

In meinem „anderen“, geselligen Leben hat es Einschränkungen gegeben. Das Internet konnte ich vorher schon bedienen – nur „Zoom“ war neu für mich; aber auch das habe ich schnell gelernt.

Wissen Sie: „Et hätt noch immer jot jejange“ – das ist die kölsche Version des Gottvertrauens und die ist nicht „einfach nur so“ dahingesagt.
O-Ton 2: „Jammern nützt nichts. Man muss das Beste daraus machen.“
O-Ton 3: EMpower-Familienpatin B. Roog über die Anfangszeit von „Corona“. Während „Corona“ habe ich Kraft gesammelt
O-Ton 4: EMpower-Patenfamilie Sauer, ein Rentnerehepaar aus Köln: „Die vergangenen „Corona-Jahre“ haben uns nicht von unserer Patenschaftspflege abgehalten“
O-Ton 5: EMpower-Familienpatin P., Rentnerin: „Die letzten zwei Jahre waren ein Alptraum“
O-Ton 6: Sylvia Krebs, 56, Koordinatorin der Familienpaten in NRW „EMpower – Engagement stärkt Mehrkindfamilien“. „Ein neues Gefühl des Miteinanders“

Weitere Informationen über das EMpower-Patenprojekt finden Sie hier:

https://www.kinderreichefamilien.de/patenprojekt-empower.html

Für Rückfragen: Dr. Laura Schlichting, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, presse@kinderreiche-familien.de

Interview mit Herrn Sven Iwersen, Vorstand bei Contigo Energie AG

KRFD: Sehr geehrter Herr Iwersen, können Sie bitte kurz die Lage am Energiemarkt einordnen?

Iwersen: Für alle Marktteilnehmer ist die aktuelle Lage am Energiemarkt etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes. Die Preise sind am Großhandel dermaßen stark gestiegen, dass es für viele Kunden (Geschäfts- und auch Privatkunden) wirklich existenzbedrohend ist. Viele Firmen verlagern Ihre Produktion bereits ins Ausland, da die Energiepreise in Deutschland im Europäischen Vergleich am teuersten sind. Grundsätzlich kann sich jeder klar machen, dass die Klimadiskussion („Klimaneutralität“), die Energiewende, der Atom- und Kohleausstieg, die hohen CO2-Emissionskosten dazu führen müssen, dass die Energie teurer werden muss. Aber in der jetzigen Zeit, auch gerade Ende letzten Jahres, kommen noch einige Sondereffekte hinzu, die den Marktpreis in entsprechende Höhen katapultiert haben: die hohe Nachfrage am Markt und die Ressourcenknappheit, insbesondere auf dem Gasmarkt (niedrige Speicherstände, noch keine Freigabe für NorthStream2), gepaart mit der angespannten Lage um mögliche kriegerische Auseinandersetzungen in der Ukraine führen zu extrem hohen Preisen.

KRFD: Was sind gegenwärtigen die durchschnittlichen Referenzpreise für Strom und Gas?

Iwersen: Man kann sagen, dass die Großhandelspreise (beim Strom und beim Gas) um das 4- bis 5-fache gegenüber dem „Vor-Corona-Niveau“ angestiegen sind. Diese hohen Beschaffungskosten machen vielen Versorgern das Leben schwer. Das spiegelt sich natürlich auch in den Verbraucherpreisen wieder. Zudem ist festzustellen, dass viele Lieferanten Ihre Vertriebsaktivitäten eingestellt, zumindest aber mal aufs Eis gelegt haben. Die Tarife der lokalen Versorger sind ganz unterschiedlich, daher lässt sich ein durchschnittlicher Referenzpreis nur schwer benennen. Aber es ist auf jeden Fall anzuraten, bei seinem lokalen Versorger (Stadtwerk) seinen Tarif zu überprüfen. Oftmals hat der eigene Versorger günstigere Tarife im Programm, die aber nicht freiwillig bzw. von sich aus gewährt werden. Daher ist ein Anruf und eine Umtarifierung unbedingt zu empfehlen und meistens auch durch einen Anruf im Servicecenter schnell erledigt.

KRFD: Warum trifft es die Verbraucher, die mit Gas heizen, besonders hart? 

Iwersen: Das Angebot ist schlichtweg gegenüber der Nachfrage zu niedrig. Das treibt den Preis enorm in die Höhe. Wenn Russland nicht bereit ist mehr Gas zu liefern, dann ist man auf andere Lieferungen angewiesen, z.B. LNG (also Flüssiggas, z.B. aus USA). Aber hier liegt alleine der Gestehungspreis um einiges höher. Außerdem sind viele LNG-Tanker zur Lieferung in den asiatischen Raum gefahren, da die Chinesen lange Zeit sehr viel LNG für hohe Preise abgenommen haben. Es wird von großer Bedeutung sein, ob man es schafft, dass diesen Sommer die Gasspeicher wieder befüllt werden, was ohne russische Gaslieferungen nicht einfach werden wird.

KRFD: Was müsste die Bundesregierung Ihrer Meinung nach jetzt tun? 

Iwersen: Zwei Dinge: 1. die Diplomatie in Richtung Russland scheint zu greifen. Es muss alles daran gesetzt werden, dass sich die politische Lage wieder stabilisiert. Dann ist Russland auch bereit wieder mehr Mengen nach Europa zu liefern (auch Russland ist auf die Lieferung angewiesen, da die Erlöse ein wichtiger Teil des russischen Haushalts darstellen). Die rechtlichen Grundlagen hinsichtlich der neuen Ostsee-Pipeline Northstream2 müssen kurzfristig geklärt werden, damit die Pipeline in Betrieb gehen kann.  2. Für Verbraucher sollte schnell eine Deckelung der Tarife vorgegeben werden, mindestens aber die hohen Stromnebenkosten müssen regulativ gesenkt werden (z.B. EEG-Umlage, KWKG-Umlage, Stromsteuer, etc.)  

KRFD: Ihre Prognose? Wie wird es weitergehen?

Iwersen: Ich hoffe, dass die Entspannung in der Ukraine den Großhandelspreis wieder sinken lässt. Das Preisniveau, welches wir noch vor einem Jahr hatten, wird allerdings so nicht zurückkehren. Ich gehe davon aus, dass sich die hohen Preise (insbesondere beim Gas) noch 1 bis 1,5 Jahre hinziehen werden. Eine wirkliche Entspannung wird erst im Frühjahr/Sommer 2023 einsetzen.

Herr Iwersen, wir danken Ihnen für das Gespräch!

"Wir wollen einen Beitrag zum Bewußtseinswandel leisten" - Interview mit Nicola Treyde (Gingko-Stiftung)

Das nachstehende Interview mit Nicola Treyde erschien zunächst in verkürzter Form in unserem Mitgliedermagazin „3+familie“ (Ausgabe Nr. 6 / 2018). Nachstehend veröffentlichen wir die volle Langfassung.

Seit mehr als drei Jahren unterstützt die von den Eheleuten Udo und Ingeborg Behrenwaldt ins Leben gerufene Gingko-Stiftung auch gezielt kinderreiche Familien. Dabei wurden nicht nur einzelne Familien und Projekte unterstützt, sondern es wurde auch erstmalig die Vergabe von Deutschlandstipendien an Kinder aus kinderreichen Familien ermöglicht.

KRFD: Seit wann gibt es die Gingko-Stiftung und was war der auslösende Impuls für die Gründer?

Nicola Treyde: Mein Vater Udo Behrenwaldt hat die Stiftung zusammen mit meiner Mutter Ingeborg im Jahr 2002 gegründet. Seit seinem Tod vor einem Jahr sind mein Bruder Tobias Behrenwaldt und mein Cousin Nils Galle mit im Vorstand.

In der Tat gab es eine ausschlaggebende Erfahrung für meinen Vater. Einer seiner Schulfreunde arbeitete als gut etablierter Arzt. Er hatte sechs Kinder und das brachte selbst ihn gelegentlich an die Grenze der finanziellen Belastbarkeit. Für ihn gab es keine Möglichkeit, irgendeine Unterstützung zu bekommen, da das Einkommen ja auf den ersten Blick hoch war. Welche Ausgaben demgegenüber standen, wurde nicht anerkannt.

KRFD: Worin sehen Sie die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

Nicola Treyde: Die meisten unserer Projekte sind im Bildungsbereich. Wir vergeben Stipendien an Einzelpersonen und haben in Afrika kleinere Projekte, bei denen wir etwa einen Schulbau oder ein Waisenheim unterstützen.

KRFD: Wie viele Projekte (auch Personen) fördern Sie im Jahr und wie erfolgt die Auswahl?

Nicola Treyde: Aktuell unterstützen wie etwa zwölf Projekte und die gleiche Zahl an Stipendiaten. Viele Projekte entstanden aus bereits lang bestehenden Partnerschaften. Soweit es möglich ist, versuchen wir zu unseren Stipendiaten einen persönlichen Kontakt zu halten. Auch wenn es offizielle Kriterien bei der Vergabe der Mittel gibt, sind wir gern bei der Auswahl direkt beteiligt. Besonders gern unterstützen wir Projekte, bei denen wir „anstiften“ können, wo es also einen finanziellen Anschub braucht und die Sache dann künftig allein weiterläuft. Es gibt auch Fälle, da federn wir bei einem gut laufenden Projekt mal einen finanziellen Engpass ab.

KRFD: Warum unterstützen Sie gezielt Bildungsprojekte besonders im musikalischen und medizinischen Bereich?

Nicola Treyde: Das ist wiederum einer persönlichen Erfahrung und wohl familiärer Prägung zu verdanken. Die Impulse kamen aus unserem Umfeld. Wir haben zum einen nette, inspirierende und engagierte Menschen kennengelernt, die ihrerseits Förderer suchen und großartige Arbeit leisten, die unterstützt werden muss. So haben wir ein Patronat bei der Kronberg Academy übernommen und vergeben Deutschlandstipendien, etwa an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf im Studienfach Medizinische Assistenz Chirurgie oder an Medizinstudenten der Goethe Uni Frankfurt.

KRFD: Worin besteht Ihrer Ansicht nach der größte Handlungsbedarf bei der Unterstützung von Familien?

Nicola Treyde: Unter unseren Verwandten gibt es viele Familien mit vielen Kindern. Ich selbst habe vier Kinder, mein Bruder drei. Meine Cousinen fünf, vier und drei. Wir haben uns alle bewusst für eine große Familie entschieden und empfinden die Kinder als Freude und als Quelle tiefer Erfahrungen, die sich durch nichts ersetzen lässt. Aber wir kennen auch alle die Zeiten, in denen die Familie ein finanzieller Balance-Akt ist, selbst bei gut bezahlten Jobs und sicheren Einkommen. Diese persönliche Erfahrung prägt unser Handeln. Deswegen schauen wir bei der Vergabe von Stipendien auch darauf, ob wir einer großen Familie helfen können.

KRFD: Was wünschen Sie sich für große Familien?

Nicola Treyde: Es wäre schön, wenn man  der Bevölkerung klar machen könnte, dass eine Mutter mit vier Kindern keine Faulenzerin ist, die sich bequem ins Privatleben zurückzieht, sondern jemand, der täglich einen nachhaltigen Beitrag zur Zukunft unserer Gesellschaft leistet und das im Verborgenen und ohne jeden öffentlichen Beifall tut. Ich würde mich freuen, wenn Kinder nicht zuerst als laut und störend angesehen werden würden, sondern zuerst eine Freude sind.

Die Bevölkerung verbindet viele Kinder mehrheitlich mit Armut und sozial prekären Verhältnissen. Dass Normalverdiener sich bewusst für eine Großfamilie entscheiden, ist den meisten nicht verständlich. Als Stiftung versuchen wir, zu diesem Bewusstseinswandel einen Beitrag zu leisten. Das tun wir gern mit dem KRFD, dessen Arbeit wir bewundern und sehr gerne unterstützen.

KRFD: Vielen Dank für den Einblick in Ihre Arbeit!

"Hilfe für schwerstkranke Kinder bedeutet Hilfe für die ganze Familie"
Interview mit Christine Bronner (AKM)

Das nachstehende Interview mit Christine Bronner erschien zunächst in verkürzter Form in unserem Mitgliedermagazin „3+familie“ (Ausgabe Nr. 6 / 2018). Nachstehend veröffentlichen wir die volle Langfassung.

An dieser Stelle möchten wir Sie ferner noch auf unser Mutmacher-Projekt aufmerksam machen. Mit "Mutmacher" will der KRFD e.V. Eltern, deren Kinder behindert oder von Behinderung bedroht sind, Mut machen, unterstützen, begleiten und Mehrkindfamilien stärken, zur aktiven gesellschaftlichen Teilhabe und zur (Mit-)Gestaltung ihres Sozialraumes anregen. Es richtet sich an Familien aus ganz Deutschland. Eine Mitgliedschaft im KRFD e.V. ist nicht erforderlich. Mehr Informationen finden Sie hier.

KRFD: Frau Bronner, Sie betreuen und begleiten Familien in schweren Lebensphasen. Wo sehen Sie die besonderen Stärken von Familien in der Bewältigung solcher Situationen?

Christine Bronner: Die Familien haben oft unglaubliche Ressourcen. Im System der Familie bilden sich die Stärken von jedem oft auf überraschende Weise aus. Deswegen ist es wirklich wichtig, die ganze Familie im Blick zu haben und auch an Unterstützungswillen im erweiterten Familienverbund zu appellieren.

KRFD: Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten organisatorischen/finanziellen/menschlichen Belastungen, die auf Familien zukommen?

Christine Bronner: Zunächst will die Familie es alleine schaffen und kommt damit oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Häufig leidet die Paarbeziehung darunter enorm. Es ist jedoch nicht leicht, um Hilfe zu bitten, im Gegenteil. Uns würde es bestimmt genauso gehen. Es ist immer deutlicher geworden, dass die Bitte um Hilfe der erste, der bedeutsamste und zugleich der schwierigste Schritt ist.
Die finanzielle Seite ist ein weiteres Thema. Nicht zuletzt wegen der Wohnsituation im Großraum München arbeiten meist beide Elternteile. Wenn ein Kind Pflege benötigt, fällt meistens ein Gehalt ganz aus oder die Einnahmen werden durch Reduzierung auf  Teilzeit oder vollständige Arbeitsplatzaufgabe  im Rahmen der erforderlichen Pflege geringer. Wenn in dieser ohnehin schon angespannten Situation Investitionen nötig werden, etwa ein Umbau oder ein besonderes Bett oder ein Auto anzuschaffen sind, wird es schnell eng. Wir sprechen hier nicht von luxuriöser Ausstattung, sondern von ganz grundlegenden Dingen für die Pflege eines kranken Kindes. Eine weitere Belastung stellt das Dickicht der Formulare dar. Das kann Familien schier erdrücken.
Dies alles belastet die Familien enorm und verstellt den Blick für den unmittelbar nächsten notwendigen Schritt.
Bei vielen Krankheiten verlieren Kinder ihre Sinneswahrnehmung und können selbst einfache Dinge nicht mehr ohne Hilfe meistern. Dieser Prozess der immer weiteren Einschränkung, des immer enger werdenden Lebenskreises ist für die Familien an sich schon schmerzhaft. Hinzu kommt die immer mühevollere Organisation des Alltags. Allein die Logistik erfordert enorme körperliche Kräfte. All das wird begleitet durch ständiges Hoffen und Bangen.   

KRFD: Aus welchen Erfahrungen heraus entstand die Stiftung AKM?

Christine Bronner: Als Fachfrau und aus meiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Erwachsenenhospiz hatte ich festgestellt, dass es in diesem Bereich an allen Enden mangelt. Persönliche Betroffenheit und professionelle Erfahrung haben mich initiativ werden lassen. Ich wollte ein Angebot schaffen, das auf die konkreten Bedarfe und Bedürfnisse der Familien eingeht und ihnen gerade dann unter die Arme greift, wenn sie unter der Last zusammen zu brechen drohen. Ich rannte und renne ich gegen viele Wände. Dabei haben sich die Krankenkassen als durchaus kooperationsbereit und unterstützend erwiesen. Bei Entscheidungsträgern in der Politik fehlt das Problembewusstsein für die besondere Situation dieser Familien. Die Erwachsenenhospizarbeit ist eine ganz andere Art von Arbeit als die Kinderhospizarbeit, dies sollte nicht in den Vergleich gestellt werden.
Noch immer wird nicht verstanden, dass Kinder eine spezifische Versorgung benötigen und dass man für ihre Versorgung nicht ohne ihre Eltern und Geschwister denken kann. Ein schwerstkrankes Kind bedeutet den Ausnahmezustand für eine ganze Familie.

KRFD: Wobei brauchen die Familien konkrete Hilfe, wenn eine Diagnose sie trifft? (Ärzte, Therapien, Betreuung, Stw. "Lotse" durch das System)

Christine Bronner:  Wir wollen die Familien aus sich heraus stärken und ihnen helfen, die Situation gemeinsam zu meistern. Wir beraten und unterstützen die gesamte Familie und helfen ihr, sich im Dickicht von Kliniken,  Behörden und Pflege zurecht zu finden.
Ergänzend vermitteln wir die  Begleitung durch ehrenamtliche Familienbegleiter. Auch Herzenswünsche werden erfüllt oder wir finanzieren Bedarfe, wie z.B. die Unterbringung in einer geeigneten Bildungseinrichtung von Patienten oder ihren Geschwistern.

KRFD: Wie erleben Geschwister die Krankheit eines Bruders oder einer Schwester?

Christine Bronner:  In Familien mit einem schwersterkrankten Kind konzentriert sich zunächst alles auf das erkrankte Kind. Alles andere und alle anderen müssen hinten anstehen. Auf Dauer gerät aber die Familie aus der Balance, wenn die Bedürfnisse der Geschwister und beider Partner gar nicht mehr wahrgenommen werden.
Eine Familie ist immer individuell zu betrachten und jedes Familienmitglied nimmt eine ganz eigene Rolle in diesem Gefüge ein. Deswegen gibt es für jede Familie eine Lösung, aber nicht eine Lösung für alle Familien. Das erkrankte Kind steht im Mittelpunkt. Auch weil niemand weiß, wie viel gemeinsame Zeit noch bleibt. Die Familien wollen jeden erdenklichen Wunsch erfüllen, so viel gemeinsame Erlebnisse schaffen wir irgend möglich.  Sobald die schwerstkranken kleinen Patienten versorgt und betreut sind, wendet sich die Stiftung den Eltern und Geschwistern zu. Denn die brauchen ebenso dringend Hilfe.
Die Menschen gehen sehr verschieden mit Trauer und Verlust um. Geschwister erleben den Tod von Bruder oder Schwester verschieden, wollen reden oder schweigen. Auch Mütter und Väter haben zuerst einen individuellen Weg, mit dem Schmerz umzugehen, bevor sie einen gemeinsamen Weg suchen.
Damit alle Mitglieder in der Familie oder Betroffene im Umfeld der Familie gut umsorgt, gehört und verstanden sind, bietet die Stiftung AKM zugeschnittene Leistungen, wie etwa die  Angehörigenberatung oder die teilhabeorientierte Nachsorge an. Seit 2017 sind wir in diesem Bereich noch stärker aktiv denn wir sehen, dass Hilfe zur Selbsthilfe der beste Weg ist, den Familien auf die Beine zu helfen.

KRFD: Wie schaffen es Eltern, für die "gesunden Kinder" noch die "Starken" zu sein?

Christine Bronner:  Müssen Eltern immer stark sein? Auch für Eltern muss es einen Raum geben, wo sie nicht stark sein müssen, sondern Kraft tanken können, um dann wieder den Kindern gerecht werden zu können. Es sollte auch Zeiten geben, in denen eine Familie gemeinsam traurig und schwach sein darf. Dann darf sie sich wieder aufraffen und weitermachen. Schwierig wird es, wenn die Kinder über längere Zeit stärker sein müssen als die Eltern. Dann benötigen die Eltern dringend therapeutische Unterstützung und die Kinder entsprechende Angebote. 

KRFD: Hat sich die Arbeit der Stiftung AKM verändert, gibt es Trends? Wie verändern sich Familien?

Christine Bronner:  Der Zusammenhalt von Familien und deren Verbund hat sich verändert. Die Großeltern und Verwandte sind deutlich weniger eingebunden in den familiären Alltag als früher. Onkel und Tanten sind oft keine direkten Bezugspunkte mehr. Die „Gesellschaft“ oder zivile Helfer, wie Ehrenamtliche werden deshalb deutlich mehr gebraucht.  

KRFD: Wie erleben Sie den gesellschaftlichen Umgang mit dem "Ausnahmezustand Krankheit"?

Christine Bronner:  Generell kann man das nicht beantworten. Meist wird kurzen heftigen Krankheiten viel Mitgefühl entgegen gebracht und spontan unterstützt und selbstverständlich entlastet. Langwierige Verläufe beanspruchen das Umfeld dauerhaft und stellen eine größere Herausforderung dar. Diese Kinder und Jugendlichen mit ihrem besonderen Rhythmus wirklich zu integrieren ist wirklich eine große Aufgabe.

KRFD: Wie gewinnen Sie Spender? Haben Sie Überraschungen erlebt?

Christine Bronner:  In den meisten Fällen öffnet die richtige Ansprache die Tür. Wir müssen den richtigen Ton für die Zielgruppe finden. Die Menschen helfen nach ihren Möglichkeiten gern und da sollte man sie auch anfragen. Unternehmer etwa bringen sich gern bei Finanzthemen ein, die großzügige ältere Dame möchte gern wissen, welche Herzenswünsche wir dank ihrer Hilfe realisieren können. Wir stellen die Stiftung auf vielfältigen Veranstaltungen mit Info-Ständen vor und versuchen, mit Menschen ins persönliche Gespräch zu kommen.
Unternehmer sprechen wir schon mal direkt an und bieten Vorträge an, um unsere Arbeit gerade auch bei den Mitarbeitern vorzustellen. Oft bringen wir eine konkrete Idee mit, die sich in das Firmenleben ohnehin einfügt, wie etwa ein traditioneller Firmenlauf. Allerdings gibt es tatsächlich auch den Fall, dass wir einfach einmal das Branchenbuch aufmachen und Unternehmen kontaktieren. Überraschungen erlebt man immer wieder. Vor einigen Wochen überbrachten uns zwei Grundschülerinnen in einer Tupperdose 50 Euro. Sie hatten mit ihren Mamas gebacken haben und den Kuchen bei einer Tour durch die Nachbarschaft verkauft. Das hat uns wahnsinnig gefreut. Die Kinder haben nicht an sich gedacht, sondern an andere Kinder, denen es nicht gut geht.

KRFD: Haben Sie neue Projekte oder Pläne für die zukünftige Arbeit?

Christine Bronner:  Die Stiftung ist dabei, Leistungen für betroffene Familien in  Versorgungszentren zu bündeln, verteilt über ganz Bayern, mit dem Ziel einer flächendeckenden Versorgung ambulant, teil- und vollstationär. Besonders mangelt es an Beratung und an einer teil- und vollstationären Entlastung im Alltag. Hier möchte die Stiftung aktiv werden und zusätzlich zum ambulanten auch ein flächendeckendes Angebot an Tagesbetreuung und alternativen Wohnangeboten erreichen.

KRFD: Was wünschen Sie sich für die Familien?

Christine Bronner:  Unser großer Wunsch für die betroffenen Familien ist es mehr Inklusion und Gehör in der Gesellschaft zu erlangen. Jeder Mensch, egal ob klein oder groß, gesund oder krank, hat ein Recht auf ein erfülltes lebenswertes Leben in und mit der Gesellschaft.

KRFD: Vielen Dank für den Einblick in Ihre Arbeit.

Über die Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM):
Die Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM). geht auf eine Initiative des Ehepaars Christine und Florian Bronner zurück. Persönliche Betroffenheit und Erfahrung sowie professionelles Können ließen sie 2004 den ersten eigenständigen Kinderhospizdienst in München ins Leben rufen. Bereits im Frühjahr 2005 gründeten sie die Stiftung „Ambulantes Kinderhospiz München – AKM“. Dank zahlreicher ehrenamtlicher Mitarbeiter und großzügiger Spender entstand ein Beratungs- und Betreuungszentrum für Krisenintervention, Kinderhospizarbeit, Angehörigenberatung und ambulante Nachsorge bei Familien mit schwersterkrankten Kindern. Heute verfügt der Dienst über ein multiprofessionelles Team aus Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen, Hebammen, Therapeuten und Pflegekräften.

"Zufrieden oder nicht – die eigene Einstellung wählen" - Interview mit Angelika Zeidler
Angelika Zeidler

Unser Verbandsmitglied Angelika Zeidler ist Coach für Lebens- und Kommunikationsgestaltung und gibt in diesem Kurzinterview Anregungen, wie stressige Situationen im Paar, in der Familie und in der Arbeit gemeistert werden können.

KRFD: Wir alle kennen Momente, in denen wir nicht so sind, wie wir sein wollen. Sie sind Coach für Lebens- und Kommunikationsgestaltung mit Schwerpunkt Gewaltfreie Kommunikation (GFK) und bieten Ansätze, mit solchen Situationen mit mehr Zufriedenheit umzugehen. Können Sie uns diese genauer vorstellen?

Angelika Zeidler: Das Leben können wir als eine Aneinanderreihung von Situationen sehen. Mit manchen sind wir zufrieden, mit manchen nicht. Wollen wir Situationen ändern, gelingt es uns oft, manchmal können wir es aber nicht. Was uns aber bleibt, ist, den Blick zu wählen, mit dem wir auf eine Situation schauen. Das kann sehr entscheidend sein. Oft ist uns nicht bewußt, dass wir diese Freiheit haben und selbst entscheiden können. Und unser Blick schließlich bestimmt dann unser Handeln sowie auch unser Befinden. Insgesamt kann dadurch unser Leben leichter und froher werden. Dies gilt für alle Situationen, unabhängig davon, welche Beteiligten es gibt, wie lange die Situation dauert oder wie aussichtslos sie scheint.

KRFD: Das hört sich interessant an, ist aber ja doch noch etwas abstrakt. Gibt es vielleicht ein konkretes Beispiel aus dem Alltag?

Angelika Zeidler: Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob ich hochrechne, die wievielte Mahlzeit ich in meinem Leben schon vorbereite oder ob ich die leuchtenden Kinderaugen vor mir sehe, wenn es gleich Spaghetti gibt. Oder: Abends, schon müde, noch Butterbrote schmieren - wenn ich mir vorstelle, dass mein Partner morgen früh ohne Murren aufsteht und sein Frühstück bereits im Zug einnimmt, während ich noch schlafe, schmiere ich gerne die Butterbrote, da ich dadurch meine Anerkennung ausdrücken kann. Statt des Partners können das auch die Kinder vor Prüfungen sein, die erleichtert sind, wenn sie die Pausenbrote nicht auch noch vorbereiten müssen. Vielleicht kann ich durch eine kleine Tomate, ein Stückchen Schokolade, ein paar liebe Worte auf einem Zettelchen oder so als überraschenden Gruß ein Lächeln in deren angespannte Lage bringen. Genauso kann ich, statt innerlich grummelnd die Brote für die Kinder zu schmieren, für mich sorgen und freundlich meinen Partner oder die Kinder selbst bitten, dies zu übernehmen, da ich einfach eine Pause brauche. Das ist klarer und stimmiger für alle und ohne stillen Ärger zwischen den Beteiligten.
Noch eine andere Situation: Bin ich den x-ten Abend genervt von meinem Kind und nur erleichtert, wenn endlich die Kinderzimmertüre zu ist, erkenne ich traurig, dass ich mir das so nicht vorgestellt habe. Entscheide ich mich, ernsthaft wertschätzend auf den jungen Menschen zu blicken und schaffe, dies vielleicht auch auszusprechen – ohne evtl. blöd Gelaufenes zu beschönigen -, ist die Nacht für alle erholsamer und auch der folgende Tag deutlich friedlicher. Diese Beispiele zeigen, dass ich in den Situationen die Beziehung in den Blick nehme, ohne mich zu verbiegen. Das gilt für große und kleine Situationen, Situationen im Paar, in der Familie, aber auch bei der Arbeit.

KRFD: Wenn Eltern zum Beispiel Probleme mit ihrem pubertären Kind haben, wie würde das denn dann ablaufen?

Angelika Zeidler: Bei einem vereinbarten Termin höre ich den Eltern persönlich oder am Telefon zu und versuche, ihre Motivation zu verstehen. Dann überlegen wir gemeinsam, welche Unterstützung möglich ist. Ich tue dies in Einzelgesprächen, aber auch in persönlichen Gesprächen innerhalb von Familien, mit Kollegen oder in anderen Konstellationen.

KRFD: Vielen Dank für dieses Interview

Mehr über Angelika Zeidler und Ihre Arbeit erfahren Sie unter http://www.gewaltfrei-aachen.de/
Frau Zeidler bietet für kinderreiche Familien einen ersten telefonischen Rat kostenfrei an. Für eine Terminabsprache erreichen Sie sie über a.zeidler@aachen-contact.de , Tel.: 0049 (241) 99799965

Schwerpunkt Familie und Beruf – Interview mit Dr. Anette Bunse, MdL NRW
Dr. Anette Bunse

Noch im Dezember 2016 konnte unser Verbandsmitglied Dr. Nina Paulic ein ausführliches Interview mit Dr. Anette Bunse (CDU, MdL NRW) führen. Darin erzählt Dr. Bunse von ihrem persönlichen Lebensweg, über Möglichkeiten der Selbstfindung und zeigt auf, dass Familie und Beruf auch nacheinander gelebt werden können.


KRFD: Wie haben Sie sich als kleines Mädchen vorgestellt, als erwachsene Frau zu leben?

Dr. Bunse: Ich hatte schon als kleines Mädchen den Traum zu heiraten und am liebsten eine große Familie zu gründen. Genauso wichtig war aber der Gedanke, als erwachsene Frau einen Beruf zu haben. Schon sehr frühzeitig und auch sehr durchgängig war mein Berufsziel klar: ich wollte Kinderärztin werden – am liebsten in Afrika, weil ich wusste, dass es dort sehr viele arme Kinder gab.
Das war ein Thema meiner Kindheit: uns Kindern geht es hier sehr gut – Kindern in anderen Ländern geht es deutlich weniger gut.

KRFD: Wie wurde „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf in Ihrer Ursprungsfamilie gelebt?

Dr. Bunse: Meine Mutter war Grundschullehrerin. Nach meiner Geburt hat sie noch wenige Monate – wie sie noch heute sagt – „schweren Herzens“ gearbeitet, um sich dann vollständig ihrer Familie zu widmen.
Nach mir wurden noch eine 2 Jahre jüngere Schwester und ein 4 Jahre jüngerer Bruder geboren. Trotz eines sehr konservativen Umfeldes auf dem Dorf, nahm meine Mutter den Schuldienst wieder auf, als mein Bruder die zweite Klasse besuchte.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde zu der damaligen Zeit, also in den 60er und 70er Jahren, sicher sehr fortschrittlich gelebt – allerdings, das gehört zur Wahrheit dazu, mit personeller Unterstützung im Haushalt. Meine Mutter haben wir Kinder also als „moderne Frau“ erlebt.

KRFD: Was davon haben Sie so gelebt? Was davon kam anders? (Informationen über Ihre aktuelle Lebenssituation) Wie sieht Ihr Leben mit Familie und Beruf aus?

Dr. Bunse: Als ich mein Medizinstudium aufgenommen habe, war mein zukünftiger Mann gerade Assistenzarzt und wir haben nach dem Bestehen meines ersten Staatsexamen geheiratet. Während des Studiums wurde unser erster Sohn geboren und kurz vor Beendigung meines Studiums unser zweiter Sohn. So waren die letzten Semester meines Studiums davon geprägt, dass jeder Tag rund um die Uhr durchorganisiert sein musste und außerdem plagte mich ständig ein schlechtes Gewissen meinem ältesten Sohn gegenüber, der ganz offensichtlich nicht glücklich über wechselnde Bezugspersonen war. Im Anschluss an mein Studium habe ich mir dann eine Auszeit nur für die Familie genommen. Geplant war dann eine Halbtagsstelle als Assistenzärztin in einem Krankenhaus. Es kam aber anders: mein Mann war beruflich sehr eingebunden. So existierte zwar der Plan Assistenzärztin zu werden in meinem Hinterkopf, gelebt wurde aber das Modell Familie mit schließlich vier Kindern, Hund und ehrenamtlichem Engagement meinerseits rund um die Belange der Kinder in Schule, Musik, Sport und Kirche. Außerdem konnten damals viele Kontakte zu Freunden, Bekannten und der Familie gepflegt werden.

Sehr anders wurde mein Leben dann, als ich mit 51 Jahren ein Ratsmandat erwarb und schließlich mit 54 Jahren mein Landtagsmandat erreichte: die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt in genau dem Alter, um das Haus zu verlassen und ich war frei, um mich dieser neuen Aufgabe widmen zu können.

KRFD: Welchen Weg haben Sie für sich gefunden, Kinder und Beruf leben zu können?

Dr. Bunse: Auch ohne den gelernten Beruf auszuüben, habe ich mich selbst gefunden: durch mein Engagement rund um die Kinder und durch die Teilnahme an vielen Fortbildungen zum Thema Naturheilmedizin und Chinesische Medizin war ich gedanklich nie eingeengt.

KRFD: Bezogen auf das Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ – Wie sieht ein besonders schöner, gelungener Tag von Ihnen aus?

Dr. Bunse: Ein gelungener Tag startet zu Hause mit einem gemeinsamen Frühstück mit meinem Mann, Telefonaten aus dem Auto mit den Kindern auf dem Weg nach Düsseldorf in den Landtag, dem Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion bzw. in den Ausschüssen (das macht mir immer sehr viel Freude) und einer Rückkehr in das Wohnzimmer – möglichst zur Tagesschau.
Anschließend sortiere ich mich dann noch gerne für den nächsten Tag am Schreibtisch und bin schließlich müde und zufrieden.

KRFD: Und wie sieht ein Chaostag, ein schrecklicher Tag aus?

Dr. Bunse: Eigentlich gibt es keine schrecklichen Tage. Weil ich dieses neue Leben mit Beruf so spät angefangen habe, ist alles noch sehr neu und spannend - so bin ich sehr motiviert und engagiert. Manchmal versuche ich an zwei bis drei Terminen gleichzeitig zu sein – dann wird es meist irgendwann zu viel.

KRFD: Was würde Ihr Mann mir antworten, wie es Ihnen gelingt Familie und Beruf zu leben?

Dr. Bunse: Er würde sagen, dass mir das gelingt, dass er aber auch sehr viel Zeit damit verbringt, unseren Haushalt mit zu organisieren: er kocht und kauft gerne ein. Und er würde sagen, dass er an den vielen Abenden, an denen ich erst spät nach Hause komme, die Ruhe genießt, liest oder selbst auch am Schreibtisch sitzt und dann die Telefongespräche mit den Kindern führt.

KRFD: Was würden Ihre Kinder darauf antworten?

Dr. Bunse: Sie haben ja nur erlebt, dass ich ehrenamtlich unterwegs war – und da haben sie irgendwann einmal gesagt, dass sie ganz gut ohne mich auskommen würden. Sie waren als Schülerinnen und Schüler früh sehr selbständig, gut organisiert und hatten Freundinnen, Freunde, Hobbys und haben ihr Zuhause auch ohne mich genossen.

KRFD: Und Sie selber?

Dr. Bunse: Ich würde sagen, dass es mir gelungen ist, weil ich persönlich den großen Vorteil hatte, Familie und Beruf „nacheinander“ leben zu können, was sicherlich nicht selbstverständlich und für viele Frauen auch gar nicht möglich ist. Die Zeit im praktischen Jahr im Krankenhaus - mit damals einem kleinen Kind - hat mir gezeigt, dass ein streng durchgetakteter Alltag häufig sehr belastend sein kann. Meine Familienphase war vielleicht etwas lang und vielleicht hätte ich mich eher trauen sollen, einen Einstieg in das Berufsleben zu wagen. Aber hier muss aus meiner Sicht auch mehr für Frauen getan werden, die nach einer länger andauernden Familienphase einen Wieder- oder Neueinstieg in die Berufswelt planen. Man muss Ihnen Mut machen, sich den Neubeginn zuzutrauen.

KRFD: Wer hat Sie auf Ihrem Weg, Vereinbarkeit zu leben, unterstützt und Ihnen „gut getan“? Wie hat er / sie das gemacht? Was hat Ihnen geholfen?

Dr. Bunse: Mein Mann hat mich unterstützt. Er hat mich motiviert und hat Tätigkeiten im Haushalt übernommen – das hätte er als junger Mann in diesem Ausmaß wohl eher nicht gekonnt.

KRFD: Was war / ist für Sie die größte Herausforderung?

Dr. Bunse: Einen wichtigen Termin in der Familie nicht wahrnehmen zu können, weil ich beruflich verpflichtet bin. Das Gefühl zu haben, meiner Fürsorgepflicht in der Familie nicht nachkommen zu können. Eine große Herausforderung ist es aktuell für mich, meiner eigenen Mutter gerecht zu werden bzw. ihr Zeit zu schenken.

KRFD: „Wenn ich König(in) von Deutschland wäre…“ Was würden Sie als Politikerin verändern, um junge Eltern in Deutschland bei der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf zu unterstützen?

Dr. Bunse: Ich würde immer sagen bzw. sage das auch, dass es Phasen in einem meist jungen Familienleben gibt, in denen ich mir nicht vorstellen kann, dass beide Partner jeder für sich zu 100 Prozent Beruf und Familie leben können und dabei allen, allem und sich selbst gerecht werden. Darum muss jeder bzw. jedes Paar für sich entscheiden, wo Abstriche gemacht werden können. Da, wo jemand Verzicht übt zu Gunsten der Familie, muss unsere Gesellschaft, muss Politik bereit sein, für einen adäquaten Ausgleich zu sorgen und vor allen Dingen muss die Gesellschaft, muss die Wirtschaft das Potential von Frauen und Männern nach einer Familienpause wertschätzen und nutzen. Als „Königin“ würde ich eine Kampagne „Frauen 40plus in den Beruf“ starten. Junge Mütter würde ich dazu ermuntern, ihren neuen Lebensabschnitt sehr selbstbestimmt zu gestalten und zu genießen.

KRFD: Mit welchen persönlichen Stärken haben Sie sich selbst geholfen? Was an Ihrer Persönlichkeit macht Ihren Weg lebbar? Warum passt Ihr Weg zu Ihnen?

Dr. Bunse: Ich bin optimistisch und eine Art emotionaler Pragmatismus kennzeichnet mich. Ich bin sehr gerne mit Menschen zusammen und sehr kommunikativ. Diese Fähigkeiten haben mir als Mutter und auch in meiner jetzigen Situation stets geholfen.

KRFD: Was würden Sie „unseren Töchtern“ und „unseren Söhnen“ raten?

Dr. Bunse: Töchtern und Söhnen rate ich: Erwerbt einen Berufsabschluss, schaut euch um, wagt es Kinder in die Welt zu setzen und genießt das – erst möglichst zu 100 Prozent – und entscheidet dann selbst, wann eure Kinder reif sind, eine Kita zu besuchen. Gönnt euch eine Rückkehr ins Berufsleben, aber kämpft immer für freie Zeiten mit der Familie. Bringt euch nicht unter den Stress immer und ständig eure Leben planen und das der Familie streng durchtakten zu müssen. Lasst euch nicht verunsichern – die meisten Menschen können und wollen Familie leben.

KRFD: Frau Dr. Bunse – wir danken für das Interview

Das Interview führte Dr. Nina Paulic, die in einer Patchwork-Familie mit vier Kindern bei Köln lebt. Dr. Paulic engagiert sich auch an anderer Stelle ehrenamtlich für unseren Verband. So bietet sie für Mitglieder eine kostenlose Beratung für Alleinerziehende mit drei und mehr Kindern an.